Aus medizinisch-physiologischer Sicht scheint die Sache recht klar: Der männliche Orgasmus äußert sich in rhythmisch-reflexartigen Kontraktionen der Beckenbodenmuskulatur, die für ungefähr drei bis zwölf Sekunden anhalten. Das Sperma (= Ejakulat) ist eine Flüssigkeitsmischung aus Spermien, die aus den Hoden stammen, sowie aus Sekreten der Prostata, Nebenhoden und Samenbläschen. Bei einem Orgasmus stößt der Mann ungefähr 2 bis 5 Milliliter Ejakulat aus – darin sind bis zu 300 Millionen Spermien enthalten. Und aus dieser Vielzahl von Spermien kann dann tatsächlich das eine oder andere Spermium auch eine Eizelle befruchten, egal ob gewollt oder ungewollt. Somit kann der männliche Orgasmus den Mann auch zum biologischen Vater machen. Viele Männer haben jedoch auch eine soziale Vaterrolle angenommen, sodass es keine genaue Zahl darüber gibt, wie viele Männer sich in Österreich auch als Väter verstehen. Zwischen 1% (sechs Monate oder mehr Monate) bis 10% (weniger als drei Monate) der Männer gehen dann auch tatsächlich in Karenz. Aber zurück zum männlichen Orgasmus.
Der männliche Orgasmus ist zumeist ein kurzes, aber auch intensives Vergnügen – in der Dauer eines Wimpernschlags liegt ganz viel Glückseligkeit, und danach, bedingt durch die Ausschüttung des Botenstoffes Oxytocin, stellt sich ein befriedigendes Gefühl sowie eine innige Verbundenheit mit dem/der Partner:in ein. Natürlich variiert der männliche Orgasmus von Mann zu Mann – alles hängt von verschiedenen Lebensstilfaktoren, der jeweiligen Gesundheit sowie auch beispielsweise von beruflichen Rahmenbedingungen ab. Aber prinzipiell stärkt jeder Orgasmus das Immunsystem und reduziert Stress, obgleich beim Onanieren oder beim Geschlechtsverkehr. Der männliche Orgasmus ist ein Teil des gesunden Männer-Selbstverständnisses und letztendlich ein wichtiger Beitrag in der Gesundheitsprävention.
Was aber passiert mit dem männlichen Orgasmus nach einer radikalen Prostatektomie, wenn aufgrund eines Prostatatumors die gesamte Prostata mitsamt ihrer Samenblasen entfernt werden muss? Die Bewältigung möglicher Begleiterscheinungen wie beispielsweise Erektionsbeeinträchtigungen oder der „trockene Orgasmus“ stellen jeden betroffenen Mann vor eine hohe persönliche Herausforderung. Der trockene Orgasmus bedeutet, dass dieser ohne Ejakulat passiert, d.h. man(n) kann mit dem Penis kein Sperma durch die Harnröhre herausschleudern und, bedingt durch die Entfernung der Samenbläschen, ist man(n) dauerhaft zeugungsunfähig.
Wenn man als Mann eine Prostatakrebserkrankung zu bewältigen hat, sind die Herausforderungen vielfältig. Von Inkontinenz bis Impotenz reichen die Themen, neben den klassischen Fragen zu OP-Techniken, von REHA-Möglichkeiten bis hin zur männlichen Sexualität, sprich: Ist ein aktives Liebesleben weiterhin möglich? Und wie konkret funktioniert „das“ mit einem trockenen Orgasmus? Letzteres ist wahrscheinlich jedem Mann doch vertraut – wer hat es noch nicht erlebt, dass nach dem zweiten oder dritten Mal beim Geschlechtsverkehr in schneller Folge das Ejakulat ausbleibt bzw. weniger wird. Das wohlige Gefühl des Orgasmus, das Kribbeln im Bauch über das kleine Becken bis in den Hodensack lässt sich vom reduzierten Ejakulat jedoch kaum beeindrucken - es bleibt warm und intensiv. Oder gilt es für einen Mann nur dann als richtiger Koitus, wenn Sperma „fließt“? Gehört zum intensiven Gefühl des Orgasmus auch unbedingt das Loslassen im Sinne des Abspritzens dazu?
Der trockene Orgasmus stellt per se kein gesundheitliches Problem dar – er ist eine normale Variante, kann aber mitunter ein psychisches Unwohl-Sein auslösen, wenn es dem Mann fremd und ungewohnt ist, offen über seine Sexualität zu sprechen, oder sich gegenüber seiner/seinem Partner:in zu öffnen. Feuchte Träume mögen der Vergangenheit angehören, doch erotische Träume werden keinesfalls ausbleiben. Wichtig ist, dass man(n) sich weiterhin als vollwertiger Mann fühlt und annimmt. Eine (Prostata-)Krebserkrankung ist immer eine Zäsur im Leben eines Mannes, doch birgt zugleich auch die große Chance, Veränderungen anzugehen und altgewohnte Abläufe zu verändern. Dort, wo der Penis im Laufe eines Männerlebens zuhäuf zu einem „erotischen Blitzableiter“ verkommt, bietet die Prostatakrebserkrankung tatsächlich die Chance, sein eigenes Liebesprogramm neu zu konfigurieren. Natürlich gehört es dazu, den eigenen Testosteronspiegel genau zu beobachten, weil manche Tumore hormonabhängig sind. Zudem sollte auch mit den operierenden Ärzt*innen über mögliche Nervenschädigungen, die bei der Operation auftreten könnten, gesprochen werden, weil diese für Komplikationen verantwortlich sein können. Wenn dann alle Risikofaktoren besprochen und in Relation zu einem erfüllbaren Sex(er)leben gesetzt werden konnten, steht – im wahrsten Sinn des Wortes – dem Mann nichts mehr im Weg, außer er selbst. Es macht daher auf alle Fälle Sinn, sich mit anderen betroffenen Männern auszutauschen, sei es bei einen der zahlreichen Selbsthilfeorganisationen oder in einer begleitenden sexualpädagogischen Gesprächsgruppe. Dort kann man(n) jedenfalls viel über sich kennenlernen, sich mit anderen Männern austauschen und auch viel Neues über Sex erfahren. Man(n) ist nie zu alt, um „Let´s talk about sex …“ zu beginnen.
Männliche Sexualität ist gesund und vital, sie ist schön und macht Spaß. Aber es kann auch zu Problemen kommen, u. a. durch erektile Dysfunktion (ED). Dies bezeichnet die Unfähigkeit, eine Erektion zu bekommen bzw. diese für den Geschlechtsverkehr ausreichend aufrechtzuerhalten. Die Auswirkungen des „trockenen Orgasmus“ oder jene durch eine erektile Dysfunktion sollten dem Mann aber den Zugang zur eigenen, aktiven Sexualität nicht erschweren oder verunmöglichen. Sexualität ist kein Leistungssport, sie ist keine Ersatzdroge für andere Unzulänglichkeiten. Sexualität ist Kommunikation, sie ist unsere intimste Körpersprache und sie ist vor allem auch die Sprache zu uns selbst. Sex mit anderen sowie Sex mit uns selbst ist daher immer auch eine Begegnung, aus der wir Kraft und Zuversicht schöpfen können. Der Prostatakrebs mag uns betroffenen Männern zwar die eine oder andere gewohnte sexuelle Ausdruckskraft nehmen, aber man(n) kann sich auch neue lustvolle Ebenen erarbeiten.
Kurzum – der OrgasMUSS sollte als ein OrgasKANN verstanden werden. Dann klappt es wieder mit dem sexuellen Höhepunkt in einer anderen, neuen Dimension. Man(n) sollte sich darauf freuen. Denn der Weg dorthin ist mit viel Übung und Vergnügen verbunden. Und so schwer er auch manchmal sein mag: Er lohnt sich.
Mag. Thomas Fröhlich, MA
Wien, am 15.12.2023